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Newsmeldung

12.08.2021

Mehr als „der, die, das“: Spracherwerb als persönliche und soziale Daueraufgabe

Foto des Buchs
Bild: © BUS gGmbh

Wer eine neue Sprache lernen muss, braucht starke Nerven, ein offenes soziales Umfeld und die Fähigkeit, persönliche Selbstverständlichkeiten zurückzustellen. Dunja Ramadan, Redakteurin der Süddeutschen Zeitung, sammelte in „Khalid und das wilde Sprachpferd“ die individuellen Erfahrungen von geflüchteten Menschen, die diese Faktoren eindrucksvoll illustrieren und kommentieren.  

Die vier Hauptprotagonist_innen des Buchs, die lange und mehrmals von der bilingualen Autorin Dunja Ramadan interviewt wurden, sind Menschen mit einer hohen muttersprachlichen Kompetenz und einem ausgeprägten sprachlichen Refklektionsvermögen: sie arbeiteten als Schriftsteller_innen, Lyriker_innen, Anwält_innen in Syrien und besitzen somit die Fähigkeit die Muttersprache im hellen Licht der Öffentlichkeit zu verwenden.

Durch die Zwangsmigration und das damit einhergehende schockartige Eintauchen ins kalte Wasser einer unbekannten Sprache betraten sie „ein dunkles Zimmer, ein Zimmer der Sprachlosigkeit“, wie der Journalist Khalid al-Aboud sein Herantasten an die neue Sprache beschreibt. Seine Angst, Fehler zu machen, sein Gesicht zu verlieren, seine Gedanken nur bruchhaft und dilettantisch darstellen zu können, hemmt ihn so stark, dass er sich zunächst nur belanglos und „dumm“ fühlt, eine Erfahrung die er mit den anderen geflüchteten Menschen im Buch teilt.

Stummer Schock

Das Ankommen in der deutschen Sprache wird als persönliche und widersprüchliche Erfahrung beschrieben, gewissermaßen sogar als stummer „Schock“: Auf der einen Seite erleben die Neuankömmlinge eine „Fülle an neuen Eindrücken“, auf der anderen Seite zermürbt sie das „Unvermögen, diese zu teilen“. Starke Persönlichkeitsveränderungen treten zutage. „War man in der Muttersprache ein lustiger Zeitgenosse, ringt man nun um jedes Wort, um jeden Witz, der einem einst locker über die Lippen ging“, so fasst die Autorin die Situation ihrer Interviewpartner_innen zusammen.

Extrinsische Motivationsfaktoren, so zeigt das Buch, beeinflussen den Spracherwerb maßgeblich. Auch wenn mehrheitsgesellschaftlich das Erlernen einer Fremdsprache positiv konnotiert ist, stellt sich das für viele Geflüchtete anders da. Wenn der erste Kontakt das „Bürokratendeutsch“ ist und das Lernen unter dem Gestirn von „Druck und Zwang“ stattfindet, so die Syrische Dichterin Lina Aftah in Ihrem Interview, entwickelt zunächst eine eher negative Beziehung zur neuen Sprache.

Neue Sprache, neues Lebensgefühl

Ohnehin fällt die temporäre Verabschiedung von der eigenen Muttersprache  beim konzentrierten Erlernen der neuen Sprache schwer. Denn Vieles, was einem kostbar war, wurde auf der Flucht zurückgelassen. Die Muttersprache mit den vielen metaphorisch aufgeladenen Wiederholungen und subtilen Wortnuancen sukzessive zu ersetzen oder zurückzustellen schneidet tief in das soziale und persönliche Selbstverständnis vieler Geflüchteten ein. Der Grund: „Eine andere Sprache zu sprechen, ist immer auch ein anderes Lebensgefühl“. Das Buch beschreibt damit eindrucksvoll das manchmal erschöpfende Engagement und die punktuelle Überwindung, die geflüchteten Menschen aufbringen, um die neue Sprache in ihren verschiedenen Registern – die Alltagssprache, die berufliche Sprache, die Beamtensprache etc. – ausreichend kennenzulernen.

Die Bedeutung sozialer Kontakte – im Alltag, im Beruf

Die Beziehung zur neuen Sprache könne sich insbesondere durch positive, alltägliche, soziale Kontakte verbessern: Diese seien ein „wichtiger Baustein, um eine neue Sprache zu lernen“, betont die Interviewpartnerin Aftah.  Auch eine gewisse Versöhnung mit der deutschen Verwaltung kann über soziale Kontakte erfolgen: „Nur wenn sie deutsche Bekannte oder Freunde haben, gelingt es ihnen, die Ängste wieder zu nehmen und die Vorurteile abzubauen“. Ohne diese deutschsprachigen Kontakte müssen viele Geflüchtete Deutsch im Endeffekt auf einer Sprachinsel, weitgehend im Alleingang, erlernen. Die bedrückende Einsamkeit des Spracherwerbs stelle insbesondere für Menschen aus Syrien, so die Autorin, ein bisher unbekanntes Gefühl dar, das „ihnen das Ankommen so sehr erschwert“.

Khalid und das wilde Sprachpferd  illustriert damit eindrucksvoll, dass Spracherwerb mehr als eine Motivationsfrage des Einzelnen ist, sondern eine gesellschaftliche, gegenseitige Aufgabe. Der Sprachanteil im Integrationskurs stellt dabei lediglich einen wichtigen Anfang dar. Ebenfalls unabdingbar ist der regelmäßige Kontakt mit Menschen im Alltag, in der Schule und im Beruf, die sich nicht von Sprachfehlern ablenken lassen, wie wir sie regelmäßig in betrieblichen Rahmen von ARRIVO BERLIN kennenlernen.

JVH


Dunja Ramadan: Khalid und das wilde Sprachpferd: Geflüchtete begegnen der deutschen Sprache. Berlin 2018

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